I. Die Zeit der Chronologen und der Philosophen
DIE BEWEGUNG DER WELT UND DER GESTIRNE BEWIRKT DEN
WECHSEL DER ZEITEN
Plinius der Ältere (23-79),
Naturgeschichte, 2. Buch
Dass die Welt eine allseits vollkommen kreisförmig gebildete Kugel sei, lehrt nicht nur die
hierin offenbare Übereinstimmung aller Völker, sondern geht auch aus Beweisgründen
hervor, die auf die Natur der Sache gestützt sind. Denn eine solche Figur neigt sich in allen Teilen in
sich, muss sich selbst tragen, schließt sich selbst ein und hält sich, ohne weiterer Bande zu bedürfen.
Sie kennt auch weder Anfang noch Ende in irgend einem ihrer Teile. Zugleich ist diese Form die am besten
passende für jene Art von Bewegung, in der sie sich beständig drehen muss.
Dass die solchermaßen gestaltete Welt in
ewig unablässigem Schwung in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden mit unglaublicher Geschwindigkeit
herumgetrieben wird, setzt der Auf- und Untergang der Sonne außer Zweifel. Ob aber durch die unaufhörliche
Umdrehung dieses Gebäudes ein unermesslicher Schall entsteht, möchte ich ebenso wenig zu behaupten wagen,
als dass das Getöne der in ihren Kreisbahnen wandelnden Gestirnen eine sanfte, anmutige Harmonie sei. Für
uns, die wir mitten darin wohnen, beschreibt die Welt ihre Bahn lautlos bei Tag und Nacht.
Zwischen Himmel und Erde schweben in der
selben Luft, durch bestimmte Zwischenräume
voneinander getrennt, sieben
Sterne, die wir die Planeten nennen. Mitten unter ihnen läuft die Sonne, ein Gestirn von der erhabensten Größe
und Macht, von deren Einfluss nicht nur Raum und Zeit, sondern auch die Sterne und der ganze Himmel abhängen.
Wohl mag man sie daher in Erwägung ihrer Wirkungen als Triebfeder, ja als Seele der Welt betrachten, ihr die
höchste Herrschaft über die Natur und selbst göttliche Macht zuschreiben. Sie bestimmt die Abfolge von Tag
und Nacht, den Wechsel der Jahreszeiten und das nach den Naturgesetzen stets wieder neu werdende Jahr. Sie
zerstreut die Düsternis des Himmels und durchbricht die Wolken des menschlichen Geistes.
Unter allen Gestirnen aber das
Bewundernswerteste und der Erde als dem Mittelpunkt der Welt am Nächsten stehende ist jedoch der Mond. Durch
seinen vielfachen Umschwung setzt er den Geist der Beobachter in große Verlegenheit, indem er beständig zu-
oder abnimmt. Er hat den kleinsten Umlaufkreis, verweilt zwei Tage in Konjunktion mit der Sonne und beginnt
dann wiederum spätestens am dreißigsten Tage seinen Wechsel. Unzweifelhaft hat er zu allem, was am Himmel
beobachtet und erkannt wurde, die Anleitung gegeben und veranlasst, dass das Jahr in zwölf Monate geteilt
wurde, da er eben so viel Mal die nach dem Ausgangspunkt ihres Laufes zurückkehrende Sonne erreicht.
DREIFACH IST DIE BERECHNUNG DER ZEIT(EINHEIT)EN
Beda Venerabilis (672-735), Über die
Berechnung der Zeiten, 2. Kapitel
Die Zeiten (tempora) haben ihren Namen von der richtigen
Einteilung (temperando): Einerseits deswegen, weil eine jede als Zeitraum anzusehende Einheit für sich
selbst eingeteilt wird; andererseits deswegen, weil durch die einzelnen Zeiteinheiten, nämlich die
Augenblicke, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrhunderte und Zeitalter ein jeder Ablauf des
sterblichen Lebens eingeteilt wird.
Bei der Festlegung und Berechnung dieser Zeiteinheiten sind
dreierlei Weisen zu unterscheiden, denn diese ergibt sich erstens aus der Natur selbst, zweitens aus der
menschlichen Gewohnheit, und drittens durch die Anordnung von Seiten einer Autorität. In diesem
letztgenannten Fall sind wiederum zwei Arten zu unterscheiden, nämlich die menschlichen und die göttlichen
Bestimmungen.
Von der Natur, nämlich von den Bewegungen der Welt und der
Gestirne, sind die Tage, die Monate und die Jahre festgelegt. Bei den Tagen ist allerdings ein Unterschied zu
machen zwischen dem Tag in seinem vollen Umfang, der auch die Nacht in sich einschließt, und dem Tag in
seinem eigentlichen Sinne, der nur jenen Zeitraum umfasst, in dem die Erde von der Sonne erleuchtet wird. Den
Wechsel der zwölf Monate gibt uns der Umlauf des Mondes mit seiner unablässigen Aufeinanderfolge des
Abnehmens und Zunehmens an, und das Jahr wird nach dem Umlauf der Sonne gemessen, von einer
Tag-und-Nacht-Gleiche oder auch von einer Sonnenwende zur anderen.
Auf den Anordnungen menschlicher Autoritäten beruhen
beispielsweise die vierjährigen Zyklen der Olympiaden sowie die ehemals gebräuchlichen neuntägigen Wochen
und die fünfzehnjährigen Indiktionen. Auf menschliche Verordnung geht weiters auch die Einschiebung eines
Schalttages zurück, den die Römer ebenso wie früher schon die Ägypter und die Griechen in jedem vierten
Jahr entweder in den Februar oder in den August einfügen ließen, weil ja bekanntlich jedes Sonnenjahr gegenüber
dem Kalenderjahr einen Überschuss von einem Vierteltag mit sich bringt. Durch göttliches Gebot ist wiederum
bestimmt worden, dass der siebente Tag der Woche als Sabbat gehalten werden soll, dass in jedem siebenten
Jahr die Feldarbeit ruhen solle und dass jedes fünfzigste Jahr als Jubeljahr begangen werden soll.
Auf menschlicher Gewohnheit beruht hingegen die
Berechnungsweise, dass ein Monat dreißig Tage zählen soll; dies stimmt aber weder mit dem Umlauf der Sonne
noch mit dem des Mondes überein: Der Mond hat nämlich in seinem Umlauf um zwölf Stunden zu wenig, die
Sonne aber um zehneinhalb Stunden zu viel.
DIE ZEIT IST DIE MESSZAHL DER BEWEGUNG
Aristoteles (384-322 v. Chr.), Physik, 4. Buch
Wenn wir danach fragen, was die Zeit ist, so müssen wir zunächst
die Frage stellen, was sie denn im Hinblick auf die Bewegung ist. Wir nehmen ja Bewegung und Zeit zugleich
wahr, und selbst im Dunkeln, wenn wir über unseren Körper äußerlich nichts wahrnehmen, in unserem
Bewusstsein aber irgendein Vorgang abläuft, dann ist augenscheinlich zugleich auch ein Stück Zeit
vergangen. Indessen gilt auch umgekehrt: Wenn eine bestimmte Zeit vergangen zu sein scheint, dann scheint
zugleich auch eine bestimmte Bewegung vor sich gegangen zu sein. Daraus ergibt sich die Folgerung: Entweder
ist die Zeit zugleich auch Bewegung, oder sie ist etwas im Hinblick auf die Bewegung. Da sie nun aber mit der
Bewegung nicht gleichgesetzt werden kann, so muss sie etwas mit Bezug auf die Bewegung sein.
Weil nun ein Bewegtes sich stets von etwas fort zu etwas hin
bewegt, und weil jede Ausdehnungsgröße eine zusammenhängende ist, so folgt natürlich auch hierin die
Bewegung einer solchen Größe: Wegen der Tatsache, dass eine Größe immer zusammenhängend ist, muss auch
die Bewegung etwas Zusammenhängendes sein, und infolge der Bewegung gilt dies auch für die Zeit. Wie lange
nämlich eine Bewegung verlief, genauso viel Zeit ist darüber allem Anschein nach vergangen.
Wir erfassen nun die Zeit, indem wir die Bewegung
unterteilen, und dies tun wir mit der Unterscheidung von "Davor" und "Danach"; und wir
sagen dann, dass Zeit vergangen sei, wenn wir ein solches "Davor" und "Danach" bei der
Bewegung wahrnehmen. Diese Unterscheidung vollziehen wir dadurch, dass wir die einzelnen Abschnitte der
Bewegung immer wieder als jeweils andere wahrnehmen und zwischen ihnen noch ein weiteres, von ihnen
unterschiedenes Element ansetzen. Wenn wir nämlich die Enden als von der Mitte verschieden begreifen und das
Bewusstsein zwei "Jetzt"-Zustände anspricht, den einen davor, den anderen danach, dann sagen wir,
dies sei Zeit. Was nämlich durch ein "Jetzt" begrenzt ist, das ist offenbar Zeit.
Wenn wir also das Jetzt als einziges wahrnehmen und nicht
entweder als ein "Davor" oder ein "Danach" in der Bewegung oder als Grenze zwischen einem
vorherigen und einem nachherigen Ablauf, dann scheint keine Zeit vergangen zu sein, weil ja auch keine
Bewegung ablief. Wenn dagegen ein "Davor" und ein "Danach" wahrgenommen wird, dann nennen
wir es Zeit. Denn eben das ist die Zeit: Die Messzahl von Bewegung hinsichtlich des "Davor" und
"Danach", denn alles messbare "mehr" oder "weniger" an einer Sache entscheiden
wir mit Hilfe einer Zahl, und bei der Bewegung tun wir dies eben mittels der Zeit.
DIE ZEIT - EIN PHÄNOMEN ZWISCHEN SEIN UND
NICHT-SEIN
Aurelius Augustinus (354-430), Bekenntnisse, 11. Buch
Was ist die Zeit? Wer könnte den Begriff leicht und kurz
erklären? Wer könnte ihn auch nur in Gedanken erfassen, um ihn sodann in Worten zu entwickeln? Was aber erwähnen
wir öfter in unseren Gesprächen, was erscheint uns bekannter und vertrauter als die Zeit? Und wir verstehen
in der Tat, wenn wir davon sprechen, den Begriff, und wir verstehen ihn auch, wenn wir jemanden davon
sprechen hören. Was ist also die Zeit?
Wenn mich niemand fragt, so weiß ich es; will ich es aber
jemandem auf seine Frage hin erklären, so weiß ich es nicht. Denn nur soviel kann ich gewiss sagen: Ginge
nichts vorüber, so gäbe es keine Vergangenheit; käme nichts heran, so gäbe es keine Zukunft; bestände
nichts, so gäbe es keine Gegenwart. Wie aber kann man sagen, dass jene zwei Zeiten - Vergangenheit und
Zukunft - tatsächlich existieren, wenn die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht ist? Wäre
dagegen die Gegenwart beständig gegenwärtig, ohne sich je in Vergangenheit zu verlieren, dann wäre sie
keine Zeit mehr, sondern Ewigkeit.
Wenn also die Gegenwart, um Zeit zu sein, in die
Vergangenheit übergehen muss, wie können wir dann sagen, dass sie an das Sein geknüpft ist, da der Grund
ihres Seins doch offenkundig darin besteht, dass es sofort in das Nicht-Sein übergeht? Also müssen wir in
Wahrheit sagen: Die Zeit ist deshalb Zeit, weil sie zum Nicht-Sein hinstrebt.
Und doch reden wir von kurzer und langer Zeit; aber das können
wir nur von der Vergangenheit und von der Zukunft sagen. Wie aber kann denn etwas lang oder kurz sein, das
gar nicht ist ? Denn die Vergangenheit ist nicht mehr, und die Zukunft ist noch nicht. Wir sollten also nicht
sagen: "Die vergangene Zeit war lang"; wir werden nämlich an ihr nichts finden, was lang war, da
sie ja, seitdem sie vergangen ist, nicht mehr besteht. Vielmehr müssten wir sagen: "Jene damalige
Gegenwart war lang"; denn nur, weil sie damals Gegenwart war, konnte sie lang sein. Und da war sie noch
nicht ins Nicht-Sein übergegangen, und deshalb war etwas da, das lang sein konnte. Sobald sie aber vorübergegangen
war, hörte sie zugleich auf, lang zu sein, weil sie überhaupt aufgehört hatte, zu sein.