Vielfalt des Zeugnisses in der Pluralität unserer Gesellschaft muss die
Devise sein
Von Dr. Walter Bayerlein, Vizepräsident des ZdK und Sprecher für pastorale Grundfragen
Die Pfarrgemeinden befinden sich seit mehr als 20 Jahren in einem tief greifenden Wandel. Als
Territorialgemeinden sind sie für die meisten Gläubigen der Mittelpunkt ihres Lebens in der Kirche. Das
Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat auf seiner jüngsten Vollversammlung acht Thesen zur Zukunft
der Gemeinden verabschiedet.
Prägend für den heutigen Wandel des Gemeindebildes ist das vom II. Vatikanischen Konzil entfaltete
biblische Bild vom Volk Gottes. Im Aufbruch aus bisher gewohnten Formen zu einer ungewohnten Vielfalt von
Gemeindegestalten erleben wir das heute ganz konkret. Die Vielfalt selbst ergibt sich aus der heterogen
gewordenen Gesellschaft, in der Kirche ihre Sendung wahrnehmen muss.
Daneben tritt heute verstärkt ins Bewusstsein, wie wichtig andere kirchliche Organisationsformen wie
Verbände und geistliche Bewegungen für das Leben der Kirche sind. Dennoch behält die
Territorialgemeinde ihre große Bedeutung als erlebbare Glaubensgemeinschaft in räumlicher Nähe, als
kontinuierliche Glaubensquelle und als konkreter Ort praktisch geübter Solidarität und politischer
Verantwortung.
Zwischen Fels und Schiff
Die Vorstellungen von Gemeindemitgliedern über das, was Kirche ist, reichen von gröF3tmöglicher
Zuwendung zur Welt bis zur kleinen sich selbst genügenden Herde der Bekennenden, Im Bild gesprochen
bewegen sich die Vorstellungen im Spannungsbogen zwischen "Fels" und "Schiff", wobei
"Fels" für Stabilität, Sicherheit, Bollwerk und Kontrast zu den hin und her wogenden Trends
des Zeitgeistes steht und "Schiff" für die Bereitschaft zu Aufbruch und den Mut, die
Wirklichkeit ernst zu nehmen, neue Ufer anzusteuern, Stürme nicht zu fürchten, eben unterwegs zu sein.
Ein anderes Element, das das Erleben von Gemeinde heute prägt: Oft liegen gelebter Glaube und die
Postulate der Kirchenleitung in dogmatischen und sittlichen Fragen weit auseinander. Glaube ist immer
biografisch mitbestimmt. Die Erfahrungen der Gemeindemitglieder werden von der Kirchenleitung häufig
nicht hinreichend wahrgenommen. Dies führt zur Entfremdung zwischen Teilen des Kirchenvolkes und der
Kirchenleitung und damit zu einem bedauerlichen Autoritätsverlust des kirchlichen Amtes in wichtigen
Fragen.
Ein die Situation der Gemeinden heute kennzeichnendes Problem ist der Mangel an Priestern. Er gefährdet
in vielfältiger Weise die Existenz vieler Gemeinden als sakramentale Gemeinschaft. Andererseits haben
sich selten zuvor so viele Frauen und Männer in Kirchengemeinden engagiert. Sie übernehmen manche
Aufgabe, die früher von Pfarrern und Kaplänen wahrgenommen wurde. Neben vielen positiven Impulsen fördert
dies aber leider auch den Verdacht, man wolle sich priesterliche Funktionen anmaßen.
Öffnung nach innen und nach außen
Vor dem Hintergrund dieser Situation hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken Ende November
2000 ein acht Thesen umfassendes Papier zur Zukunft der Gemeinden verabschiedet. Es wendet sich damit vor
allem an diejenigen, die sich vor Ort für die Zukunft der Gemeinden verantwortlich fühlen. Dabei ist es
Kernanliegen des ZdK für eine Öffnung der Gemeinden zu werben, für eine Öffnung nach innen, die das
neben- und miteinander vieler Individuen und Gruppen möglich macht, die die individuellen Lebensentwürfe
der Gläubigen integriert, aber auch ein Öffnen nach außen, hin zu ökumenischer Geschwisterlichkeit
und auch zu denen, die am Rande stehen.
Die Thesen des ZdK-Papiers lauten in Kurzform:
1. Öffnen der Gemeinden - wider die Gefahr der Milieuverengung
Jeglicher Milieuverengung, etwa auf die regelmäßigen Gottesdienstteilnehmer, ist durch größere
kirchliche Lebensnähe zu anderen Milieus zu begegnen. Hierzu sind Orte der offenen Begegnung nötig.
Gemeinde muss einen einladenden Charakter haben und jede Chance wahrnehmen, mit Menschen in Kontakt zu
kommen, die mit ihr in Kontakt kommen wollen. Zugleich müssen sich die Glieder der Gemeinde fragen, ob
sie bereit sind, in anderen, nichtkirchlichen Milieus gegenwärtig zu sein.
2. Raum für Lebensgeschichte und Biografie aus der Kraft des Glaubens - wider
einen umfassenden Regelungsanspruch
Die Gegenwart ist von einem starken Trend zur Individualisierung geprägt, die neben der Gefahr, sich
selbst zum Maß nehmen zu wollen, auch die Chance zur persönlichen Glaubensentfaltung umfassen kann.
Wenn Menschen ihre eigene Lebensgeschichte als Geschichte mit Gott erfahren sollen, muss es der Gemeinde
gelingen, deren Situation ernst zu nehmen und mit ihrer guten Botschaft die Menschen so annehmen, dass
sie Glaube zuerst als Hilfe zum Leben erfahren und nicht als Geflecht von zahlreichen, alles regelnden
Lehrsätzen, Geboten und Verboten, die sie als lebensfremd und daher sie nicht betreffend und oft als
unangemessen einengend empfinden.
3. Vielfalt der Gruppen als Chance - wider den Zwang zu gemeindlicher Uniformität
In vielen Gemeinden gibt es verschiedene kirchliche Gruppen und Verbände, die für das Leben einer
Gemeinde wichtig und wertvoll sind. Sie stellen eine Herausforderung dar, den Grundsatz der Subsidiarität
auch auf ihrer Ebene zu leben und zugleich im Dialog ein "Netzwerk des Vertrauens" zwischen den
Gruppierungen zu knüpfen, so dass für alle das Ganze im Blick bleibt. Die verschiedenen Gruppierungen
und Verbände bieten auch den Nichtgottes -dienstteilnehmern die Chance, auf dem Weg solidarischen
Handelns in Projekten und Aktionen ihren eigenen Glauben und die Kirche wieder neu zu entdecken.
4. Gemeinden als Orte öffentlich wirksamen Gottesglaubens - wider einen religiösen
Rückzug ins Private
Der Zug der Zeit zur Privatisierung macht auch vor dem Glauben nicht Halt. Der Slogan "Glaube ist
Privatsache" hat nicht nur in Teilen der Gesellschaft Konjunktur. Davor resignieren auch manche
kirchliche Kreise und reden einem Rückzug der Kirche aus der vermeintlich gottlosen Gesellschaft und
ihren Strukturen das Wort. Demgegenüber ist festzuhalten: Glaube hat unverzichtbar eine öffentliche
Dimension, indem er die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums interpretiert und die Welt aus dieser
Sicht mitgestaltet.
5. Gemeinden in der Mitverantwortung und Mitentscheidung aller - wider eine
Missachtung der Kompetenz des ganzen Gottesvolkes
Die ureigene Kompetenz von Laien, die - verglichen mit den Trägern des kirchlichen Amtes - keine
"Christen und Christinnen zweiten Ranges" sind und über eine andere Lebenserfahrung aus Beruf,
Ehe und Familie etc. verfügen als die Träger des Amtes, wird bisher strukturell zu wenig anerkannt und
genutzt. Demokratie ist unlöslich mit den Lebenserfahrungen der Menschen heutiger Generationen
verbunden, sie ist Teil ihres kulturellen Selbstverständnisses. Partizipation, Dialog,
Selbstverantwortung, Freiheit und Gewaltenteilung sind Werte, die das persönliche und soziale Leben der
Menschen prägen.
6. Heraus aus den Verlegenheitslösungen wegen des Priestermangels - wider die
Gefährdung der sakramentalen Mitte der Gemeinde
Der Priestermangel trifft die sakramentale Mitte der Gemeinde durch Mangel an Eucharistie. Das ZdK
erinnert an seinen - leider bisher wirkungslosen - Vollversammlungsbeschluss vom 18.11.1994, die
kirchenrechtlich zwingende Verbindung von Ehelosigkeit und Priesteramt um der Zukunft der Gemeinden
willen ernsthaft zu überdenken.
7. Zukunft gewinnen durch die Kompetenz lernender Gemeinden - wider die
Fixierung auf den Status quo
In den meisten Bistümern Deutschlands sind Überlegungen zu veränderten pastoralen Planungen im
Gange. Manches erscheint noch allzu sehr auf die "Verwaltung des Priestermangels" fixiert: Ohne
Differenzierung der Gemeindeleitung in eigentliche und unverzichtbare Aufgaben des Priesters und solche,
die auch von entsprechend ausgebildeten und beauftragten hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Laien gut
geleistet werden können, wird den Anforderungen heutiger Pastoral unter veränderten Bedingungen nicht
genügt.
8. Den Auftrag zur Überwindung der Spaltung leben - wider konfessionelles
Kirchturmdenken
Entsprechend dem Auftrag des Herrn, "eins zu sein", ist in den Kirchengemeinden die ökumenische
Zusammenarbeit im gottesdienstlichen und sozialen Bereich zu verstärken. Christen verschiedener
Konfessionen sollten all das aus ihrer gemeinsamen Sendung heraus gemeinsam tun, was heute verantwortbar
gemeinsam getan werden kann.