So wird Frieden möglich
Zwölf Thesen von Hans Küng
Abdruck aus chrismon, dem sehr zu
empfehlenden evangelischen Magazin, das monatlich als Beilage in "Die
Zeit", "Frankfurter Rundschau", "Sächsische Zeitung" und "Süddeutsche
Zeitung" erscheint. Die freundliche
Genehmigung der chrismon-Redaktion liegt vor.
Verständigung, Toleranz, Gespräch - gibt es so etwas überhaupt noch in
Zeiten von Terror und Krieg? Ja, es gibt diesen Versuch, und er bringt
einen Mann ins Scheinwerferlicht, der wie kaum ein anderer seit
Jahrzehnten für die Annäherung der Weitreligionen arbeitet: Hans Küng.
Anfang Dezember 2001 wird UN-Generalsekretär Kofi Annan und der
Vollversammlung der Vereinten Nationen ein mit Spannung erwartetes
Dokument überreicht: der "Bericht über den Dialog der Zivilisationen".
Eine vom Generalsekretär ernannte "Gruppe herausragender Persönlichkeiten"
(Group of Eminent Persons), darunter Hans Küng und Altbundespräsident
Richard von Weizsäcker, hat ihn vorbereitet.
Seit Hans Küng 1990 sein "Projekt Weltethos" veröffentlichte, ist er ein
gefragter Ratgeber. Die Grundthese des Tübinger Theologen: "Kein
Weltfriede ohne Religionsfriede" ist nach den Terroranschlägen in Amerika
aktueller den je; die Religionsgemeinschaften müssten sich von ihren
Traditionen der Gewalt und Intoleranz trennen und den friedensfördernden
Kern ihrer Lehren unterstreichen.
Anlässlich der UN-Vollversammlung wird Küng
die neue Ausstellung seiner Stiftung Weltethos "Weltreligionen -
Weltfrieden – Weltethos" im UN-Hauptquartier eröffnen. Vorab stellt er
exklusiv in "chrismon" zwölf Thesen zum Umgang mit dem Terrorismus zur
Diskussion.
1.
SOLIDARITÄT ?
Den Opfern und ihren Angehörigen, ja, der
ganzen amerikanischen Nation gehört angesichts des monströsen Attentats
unser uneingeschränktes Mitgefühl und unsere aktive Solidarität. Diese
Solidarität hat aber Grenzen an militärischen Abenteuern, die, wie im Fall
früherer Raketenangriffe auf den Sudan, unberechtigt oder, auf
Afghanistan, unnütz waren und im Fall von Landoperationen in Afghanistan
ungewiss sind. Ein "Krieg" mit Flottenverbänden und Flugzeuggeschwadern
gegen ein terroristisches Netzwerk bringt Risiken mit sich: unberechenbare
Ausweitung und anti-westliche Solidarisierung. Diese erhöhen sich, wenn
noch mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung und eventuell auch unter den
eigenen Soldaten zu beklagen sind.
2. STRAFMASSNAHMEN ?
Auch die große Masse der Muslime in
Deutschland und in der Welt ist über die Terrorangriffe bestürzt. Die
Schuldigen sind aufzuspüren und, wenn sie unzweifelhaft feststehen,
abzuurteilen. Gewaltanwendung kann bei ihrer Festnahme nicht
ausgeschlossen werden. Zugleich jedoch sollten die USA (und Israel) ihre
Opposition gegen die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs
in Den Haag aufgeben.
3. RACHEAKTIONEN ?
Reine Racheaktionen sind durch das Völkerrecht
verboten. Gegen das "Auge um Auge, Zahn um Zahn" der hebräischen Bibel
verstößt, wer dem Gegner "zwei Augen" nimmt oder "mehrere Zähne"
einschlägt, und mit Panzern, Hubschraubern und Raketen gegen Steine
werfende Jugendliche und Unschuldige vorgeht. Gegen das christliche
Vergeltungsverbot, demzufolge Böses nicht mit Bösem vergolten werden soll,
vergeht sich, wer in einem "Kreuzzug" jegliches militärische Mittel zur
Bestrafung einer Nation, in der sich Attentäter aufhalten, als berechtigt
ansieht. Glücklicherweise hat man in Washington die Strategie des "einen
großen Schlages" (gegen Afghanistan, Irak und Syrien) zugunsten einer
diplomatischen Anti-Terror-Allianz aufgegeben. Rache, "Revanche", die
Unrecht durch noch größeres Unrecht beantwortet, hat in der europäischen
Geschichte und in anderen Teilen der Welt unendlich viel Elend über die
Völker gebracht. Willkürliche Bombardements bewirken nichts, sondern
stacheln nur den Hass an. Terror darf nicht mit Terror beantwortet werden,
sondern nur mit den Mitteln eines Rechtsstaats.
4. INFINITE JUSTICE ?
Die deutsche Übersetzung "grenzenlose
Gerechtigkeit" für das militärische Projekt ist unrichtig (dies wäre im
Englischen boundless, unlimited justice). "Unendliche
Gerechtigkeit" ist wie "unendliche Barmherzigkeit" ein Gottesattribut, das
den Menschen nicht zusteht. Fiat justitia et pereat mundus ("Es
geschehe Recht, auch wenn die Welt untergeht") wäre als Prinzip der
Weltpolitik mörderisch. Der alte Satz Summum ius summa iniuria
("Das größte Recht ist das größte Unrecht") warnt vor der Verabsolutierung
des Rechts à la Michael Kohlhaas, die zu Mord und Totschlag, Unrecht und
Unmenschlichkeit führen kann. Es geht nicht um einen apokalyptischen Kampf
zwischen Gut ("wir") und Böse ("sie"). Erfreulicherweise hat die
US-Regierung Infinite Justice jetzt ersetzt durch Enduring
Freedom ("nachhaltige Freiheit").
5. ZUSAMMENPRALL DER
ZIVILISATIONEN ?
Samuel P. Huntingtons Erklärungsmodell vom
"Kampf der Kulturen" (so der deutsche Buchtitel) ist ungeeignet und dient
zur Rechtfertigung von Vorurteilen. Die Angriffe islamistischer
Terroristen galten nicht christlichen Symbolstätten, sondern Symbolstätten
des amerikanischen Imperiums, dem wirtschaftlichen und militärischen
Nervenzentrum der USA. Es handelt sich gerade nicht um einen generellen
Zusammenprall zwischen "dem Islam" und "dem Westen", sondern um die
mörderische Attacke einer verschwindend kleinen, aber intelligenten,
todesmutigen und so höchst gefährlichen Gruppe von Muslimen, die vor allem
politische Ziele verfolgen, dabei allerdings religiös motiviert sind.
6. URSACHEN?
Jegliche monokausale Erklärung greift zu kurz.
Ernst zu nehmen sind:
a) die
Ressentiments der Araber gegenüber dem Westen: Die Wunden des europäischen
Kolonialismus und Imperialismus sind noch keineswegs verheilt, schließlich
stand mehr als ein Jahrhundert lang fast die gesamte islamische Welt von
Marokko bis Indonesien unter der militärischen, wirtschaftlichen und
politischen Herrschaft Englands, Frankreichs, Russlands und der
Niederlande;
b) die
Ressentiments gegen die Präsenz der USA am Persischen Golf: Der Angriff
auf das islamische Brudervolk Irak und die massive Präsenz amerikanischer
Truppen auf "heiligem arabischen Boden" nahe bei Mekka und Medina war für
Fanatiker wie Bin Laden, den ursprünglich von Amerika aufgerüsteten
Bundesgenossen, Anlass zum Frontenwechsel gegen Amerika. Die Unterstützung
undemokratischer Regime, auch in Kuwait nach dem Golfkrieg, hat den
Antiamerikanismus verstärkt. Die Dauerpräsenz von zehntausenden
amerikanischer Soldaten in der Golfregion seit dem Golfkrieg wird von
vielen Muslimen als Demütigung und Demonstration amerikanischer Hegemonie
verstanden;
c) die
Ressentiments gegen Israel als amerikanischen Brückenkopf im arabischen
Raum: Ober fünfzig Jahre praktisch parteiliche "Vermittlungspolitik" der
USA für Israel (Shimon Peres: "52 Jahre haben die USA Israel keinen
Wunsch abgeschlagen") haben vor allem die Palästinenser, deren Situation
sich ständig verschlimmert hat, an der ehrlichen Maklerschaft der
Vereinigten Staaten für den Frieden zweifeln lassen. Der Nahost-Konflikt
ist im Kern ein Territorialkonflikt. Wenn es nach 50 Jahren nicht
endlich gelingt, eine friedliche Nachbarschaft zwischen Israel und einem
lebensfähiger Palästinenserstaat zu erreichen, wird man immer wieder mit
Terrorangriffen inner- und außerhalb der Region rechnen müssen Friede
erfordert ein Nachgeben von beiden Seiten, vor allem aber von Seiten des
Stärkeren, und das ist heute Israel, mit Unterstützung der USA die
stärkste Militärmacht im Nahen Osten.
7. TERRORISMUS ISLAMISCH ?
Die terroristische Attacke auf die USA ist von
der überwältigenden Mehrheit der Muslime sofort als unislamisch verurteilt
worden. Terrorismus gilt unter den Muslimen allgemein als eine
Pervertierung des Islam. Auch im Koran wird dazu aufgefordert, Böses mit
Gutem zu erwidern oder abzuwehren (Sure 13,22). Die Menschen sollen
mit Weisheit ermahnt werden, "auf die beste Weise mit Gegnern zu streiten"
(16, 125), und das meint offensichtlich: auf friedliche Weise.
Zentrale Koranaussage ist der von Muslimen immer wieder zitierte
Grundsatz: "Kein Zwang in der Religion". (2, 256)
8. "DJIHAD" IM KORAN ?
Wie die hebräische Bibel, so enthält auch der
Koran Aufforderungen zu Kampf und Krieg. Aus der Frühgeschichte der
muslimischen Gemeinschaft erklärt sich, dass die Teilnahme am Krieg im
Koran wie in den Rechtstexten zur Pflicht gemacht wird. "Djihad meint zwar
nicht "heiliger Krieg", sondern zunächst einmal "Anstrengung" im
moralischen Sinn, ein "Bemühen auf dem Wege Gottes". Die gemäßigten
Muslime verstehen das Wort heute allgemein so. Aber man darf nicht
bagatellisieren, dass "Djihad" auch schon in den ursprünglichen Quellen
als kriegerische Auseinandersetzung verstanden wird. Und diese Aussagen
können heutzutage leicht von politischen Fanatikern missbraucht werden.
Deshalb stellt sich hier grundsätzlich die Frage nach der
Koraninterpretation ("Koranhermeneutik"), wie wir uns als Juden und
Christen ja auch schon seit langem den schwierigen Fragen der
Bibelhermeneutik stellen mussten. Der Islam muss sich der
Auseinandersetzung mit der Moderne ehrlich stellen.
9. WELTPOLITISCHE NEUBESINNUNG ?
Auch in den westlichen Industriestaaten drängt
sich angesichts der Verschlechterung der politischen Atmosphäre seit dem
Amtsantritt von Ministerpräsident Sharon und US-Präsident Bush ein
Neubesinnung auf. Es kommt jetzt darauf an:
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die Spirale der Gewalt
nicht hochzudrehen, sondern sich verstärkt um Deeskalation zu
bemühen;
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sich nicht an Konflikte
zwischen Israelis und Palästinensern zu gewöhnen, sondern Lösungen
mit zu tragen;
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ehrliche Makler zu sein
statt westliche Parteilichkeit zu üben;
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an die Stelle der
Konfrontation Vertrauensbildung auf alle Ebenen treten zu lassen;
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statt Symptome zu
bekämpfen an den sozialen und politischen Wurzeln des Terrors
anzusetzen. Wenn jetzt plötzlich überall Milliarden für
militärische und polizeiliche Zwecke locker gemacht werden können,
sollten auch entsprechende Mittel für die Verbesserung der
sozialen Lage der Massen zur Verfügung stehen, welche die
Verlierer bei der Globalisierung sind und daher vielfach Zuflucht
bei fundamentalistischen Gruppen suchen. |
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10. WELTETHOS ?
Durch die Tragödie in den USA ist vielen die
Dringlichkeit des Projekts Weltethos überhaupt erst aufgegangen: Kein
Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen und kein
Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Wenn
dieser Dialog nicht stattfindet oder abgebrochen wird, so ist die
Alternative die Gewalt: Wenn nicht miteinander geredet wird, so wird
aufeinander geschossen. Nicht nur im Islam, auch im Judentum und
Christentum, ja auch in den östlichen Religionen besteht die Gefahr, dass
Religion zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird. Dann entsteht ein
hochexplosives Gemisch aus Religion und Politik. Wenn der ungeheure Staub,
der in der Folge der Terrorangriffe aufgewirbelt wurde, sich ein wenig
gesetzt hat, muss es zu einem neuen und verstärkten Dialog kommen. Und
allenthalben, stellt man fest, ist das Interesse am religiösen Dialog und
am Weltethos auch in den Kreisen gestiegen, die diesbezüglich
zurückhaltend waren.
11. AUCH MUSLIME FÜR
EIN WELTETHOS ?
Schon die Erklärung zum Weltethos des
Parlaments der Weltreligionen in Chicago 1993 ist auch von
muslimischen Vertretern unterschrieben worden. Und gerade in Deutschland
hat dieses Projekt unter Muslimen sehr viel positives Echo ausgelöst.
International haben sich hervorragende Muslime wie Prinz Hassan von
Jordanien für die Gemeinsamkeit in ethischen Standards und gegen den
Terrorismus ausgesprochen. Und es war der iranische Staatspräsident
Khatami, der schon in der UN-Vollversammlung 1998 den "Dialog der
Zivilisationen" - in Antithese zu Huntingtons "Zusammenprall der
Zivilisationen" - auf die Tagesordnung der UN gesetzt hat. Mit
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker gehöre ich einer zwanzigköpfigen
"Group of Eminent Persons" an, die für Generalsekretär Kofi Annan einen
Bericht über ein neues Paradigma internationaler Beziehungen ausarbeiten
soll. Dieser Bericht wird am 3./4. Dezember 2001 dem
Generalsekretär und der UN-Vollversammlung vorgestellt, die dann eine
Resolution verabschieden wird. Damit dürften die Ideen des Projekts
Weltethos die UN-Ebene erreicht haben.
12. EIN NEUES PARADIGMA
INTERNATIONALER BEZIEHUNGEN ?
Statt der neuzeitlichen nationalen
Interessen-, Macht- und Prestigepolitik brauchen wir eine Politik
regionaler Versöhnung, Verständigung und Annäherung. Was im Rahmen der EU
und der OECD sich nach zwei Weltkriegen als möglich erwiesen hat, muss
nach so vielen Kriegen auch im Nahen Osten und in anderen Konfliktgebieten
dieser Erde möglich sein: statt Konfrontation, Aggression und Revanche
jetzt Kooperation, Kompromiss und Integration. Natürlich ist Politik im
neuen Paradigma nicht einfach leichter geworden, sondern bleibt die -
jetzt freilich gewaltfreie – "Kunst des Möglichen". Wenn sie funktionieren
soll, kann sie sich nicht gründen auf einen "postmodernistischen"
Beliebigkeitspluralismus. Vielmehr setzt sie einen gesellschaftlichen
Konsens über bestimmte Grundwerte, Grundrechte und Grundpflichten voraus.
Dieses elementare Weltethos muss von allen gesellschaftlichen Gruppen
mitgetragen werden, von Glaubenden wie Nichtglaubenden, von den
Angehörigen der verschiedenen Religionen wie Philosophien oder Ideologien.