St. Albertus Magnus Ottobrunn

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ANNE FRANK (1929-1945)


Tagebucheintragungen

Anne Frank, geboren am 12. Juni 1929, entstammt einer gebildeten, wohlhabenden deutschen Familie, die im Jahre 1933 vor den einsetzenden Judenverfolgungen floh, um dann von 1940 an die gleiche Verfolgung in dem neu gewonnenen Asyl, Holland, zu erleben. Kurz vor dem "Untertauchen" der Familie in einem Hinterhaus beginnt die damals Dreizehnjährige Anne Eintragungen in ihr Tagebuch, dem sie sich wie einem Freund offenbart.

7. November 1942

Manchmal denke ich, dass Gott mich prüfen will. Ich muss mich selber vervollkommnen ohne Vorbild und ohne Hilfe, dann werde ich später stark und widerstandsfähig sein.
Wer außer mir wird später diese Briefe lesen? Wer kann mir helfen? Ich brauche Hilfe und Trost. Oft bin ich schwach und bringe nicht fertig, das zu sein, was ich so gern sein möchte. Ich weiß es und probiere immer wieder, jeden Tag von neuem, mich zu bessern.
Ich werde ungleichmäßig behandelt. Den einen Tag gehöre ich zu den Großen und darf alles wissen, und am nächsten Tag heißt es dann wieder, dass Anne noch ein kleines dummes Schäfchen ist, die denkt, aus Büchern viel gelernt zu haben, aber natürlich noch nichts Rechtes weiß.

23. Juli 1943

Was wir uns alle zuerst wünschen, wenn wir wieder frei sind. Margot (Schwester) und Herr v.D. (Mitbewohner) möchten zuerst ein heißes Bad voll bis obenhin nehmen, in dem sie mindestens eine halbe Stunde bleiben wollen. Frau v.D. will am liebsten gleich in irgend einer Konditorei ordentlich Torte essen, Dus. kennt nur eins: Das Wiedersehen mit seiner Frau, seinem Lottchen; Mutter sehnt sich nach einer Tasse Kaffee. Vater besucht als erstes Herrn Vossen, Peter will gleich in die Stadt ins Kino - und ich?? Ich würde vor Seligkeit nicht wissen, was ich zuerst anfangen soll.

29. Oktober 1943

Mir geht es ganz gut, nur habe ich gar keinen Appetit. Immer wieder heißt es: "Du siehst so schlecht aus!" Ich muss sagen, dass meine Familie sich die größte Mühe gibt, um mich gesund und kräftig zu erhalten. Leider bin ich nicht immer Herr über meine Nerven. Sonntags empfinde ich das am meisten. Dann ist die Stimmung im ganzen Haus gedrückt, so schläfrig und oft bleischwer. Man hört kaum Geräusche von draußen, und eine beklemmende Schwüle liegt über allem. Dann ist es, als ob schwere Gewichte mich tief herunter ziehen.
Vater, Mutter und Margot sind mir dann sogar gleichgültig. Ich irre im Haus herum, von einem Zimmer zum anderen, treppauf, treppab. Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat und der im Dunkeln gegen die Stangen seines engen Käfigs anfliegt. "Heraus, heraus", schreit es in mir, "ich habe Sehnsucht nach Luft und Lachen!"
Aber ich weiß, dass es keine Antwort darauf gibt, und dann lege ich mich schlafen, um über diese Stunden mit ihrer Stille und Angst hinwegzukommen.

8. November 1943

Es ist dumm, dass ich hier im Hinterhaus so abhängig bin von Stimmungen. Aber ich bin es nicht allein, wir sind es alle. Lese ich ein Buch und stehe stark unter seinem Eindruck, muss ich mich immer erst zur Ordnung rufen, ehe ich mich wieder sehen lasse, sonst würden die anderen denken, ich sei ein bisschen verdreht. Du merkst sicher, dass ich mich wieder in einer ganz niedergeschlagenen und mutlosen Periode befinde. Warum, kann ich dir wirklich nicht sagen, denn es liegt kein Grund vor, aber ich glaube, es ist eine gewisse Feigheit, die ich eben zeitweise nicht überwinden kann. Heute Abend wurde andauernd und scharf geschellt. Ich wurde weiß wie ein Tuch, bekam Leibschmerzen und Herzklopfen und verging beinahe vor Angst. Wenn ich abends im Bett bin, habe ich schreckliche Visionen. Dann sehe ich mich allein im Gefängnis ohne Vater und Mutter. Manchmal irre ich irgendwo herum, oder unser Hinterhaus steht in Flammen, oder sie kommen des Nachts, um uns weg zu holen. Ich fühle das alles wie Wirklichkeit und komme nicht von dem Gedanken los, dass gleich etwas Schreckliches passieren muss.

Miep sagt oft, dass sie uns beneidet, weil wir hier Ruhe haben. Im Prinzip hat sie recht, aber sie denkt nicht daran, dass wir immer in Angst leben. Dass die Welt je wieder so für uns sein wird, wie sie war, kann ich mir kaum vorstellen. Ich sage wohl häufig: "Nach dem Krieg!" Aber das ist dann, als spräche ich von einem Luftschloss, über etwas, das nie Wirklichkeit werden kann. An unser Leben zu Haus, die Freundinnen, die Schule mit ihren Freuden und Leiden, an alles "Frühere" denke ich mit dem Empfinden, als hätte nicht ich, sondern jemand anders das erlebt! Ich sehe uns Acht hier im Hinterhaus, als wären wir auf einem lichten Stück blauen Himmels inmitten schwerer, dunkler Regenwolken. Noch ist unser Platz sicher, aber die Wolken werden immer dichter und der Ring, der uns noch von der nahenden Gefahr trennt, immer enger. Schließlich sind wir so eingehüllt von der Dunkelheit, dass wir in dem verzweifelten Wunsch, uns befreien zu wollen, aneinander geraten. Wir sehen unten, wie die Menschen gegeneinander kämpfen, und blicken hinauf, wo Glück und Ruhe ist. Wir aber sind abgeschnitten durch die dicke, undurchdringliche Schicht, die uns den Weg dahin versperrt und uns umgibt wie eine unüberwindliche Wand, die uns zerschmettern wird, wenn es an der Zeit ist. Und ich kann nur rufen und flehen: "0 Ring, Ring, werde weiter und öffne dich für uns!"

Seit gestern ist es draußen herrlich, und ich bin richtig aufgekratzt. Ich gehe fast jeden Morgen auf den Speicher, um frische Luft zu atmen. Von meinem Lieblingsplatz auf dem Fußboden sehe ich ein Stück vom blauen Himmel, sehe den kahlen Kastanienbaum, an dessen Zweigen kleine Tropfen schillern, und die Möwen, die in ihrem eleganten Gleitflug wie aus Silber scheinen. Aber ich sah auch aus dem offenen Fenster über ein großes Stück von Amsterdam hin, über alle Dächer bis an den Horizont, der so im hellen Blau verschwommen war, dass ich die Scheidungslinie nicht deutlich sehen konnte. "Solange es das noch gibt", dachte ich, "diese strahlende Sonne, diesen wolkenlosen blauen Himmel, und ich das noch erleben kann, darf ich nicht traurig sein."

Für jeden, der einsam oder unglücklich ist oder in Sorge, ist das beste Mittel hinauszugehen, irgendwohin, wo er allein ist, allein mit dem Himmel, mit der Natur und Gott. Dann, nur dann fühlt man, dass alles ist wie es sein soll und dass Gott die Menschen in seiner einfachen, schönen Natur glücklich sehen will. Solange es so ist - und es wird wohl immer so sein - weiß ich, dass es unter allen Umständen einen Trost gibt für jeden Kummer, und ich glaube bestimmt, dass die Natur so vieles Leid erleichtert.

Gedanken

Wir entbehren hier viel und entbehren es lange. Ich fühle das ganz genau so wie du. Ich spreche nicht von äußeren Dingen. Davon haben wir hier genug, nein, ich meine das, was uns innerlich bewegt. Ich verlange ebenso wie du nach Freiheit und Luft, aber nun glaube ich, dass wir für diese Entbehrungen ausreichend entschädigt sind. Das erfasste ich plötzlich, als ich heute Morgen vor dem Fenster saß, ich meine die innere Erkenntnis. Als ich hinaus sah und Gott tief in der Natur erkannte, da war ich glücklich, nichts anderes als glücklich. Und solange dieses Glück in uns ist, dieses Glück der Natur, der Gesundheit und noch viel mehr, solange man das in sich trägt, wird man immer wieder glücklich werden. Reichtum, Ansehen, alles kannst du verlieren, aber das Glück deines Herzens kann höchstens einmal verhüllt sein und wird dich doch immer aufs Neue glücklich machen, solange du lebst. Solange du ohne Furcht zum Himmel aufsehen kannst, solange weißt du, dass du reinen Herzens bist, und das Glück wird immer mit dir sein.

7. März 1944

Wenn ich des Abends im Bett liege und mein Gebet mit den Worten endige: "Ich danke dir für all das Gute und Liebe und Schöne", dann jubelt es in mir. Dann denke ich an das "Gute": unser Verschwinden, meine Gesundheit, an das "Liebe": an das, was einmal kommen soll: die Liebe, die Zukunft, das Glück. Das "Schöne", das die Welt umfasst: Natur, Kunst, Schönheit und alles Große, was damit verbunden ist.
Dann denke ich nicht an all das Elend, sondern an das Herrliche, was übrigbleibt. Hier liegt auch größtenteils der Unterschied zwischen Mutter und mir. Wenn man schwermütig ist, gibt sie den Rat: "Denke an alles Elend in der Welt und sei dankbar, dass du es nicht erlebst."
Ich sage: Gehe hinaus in die Felder, die Natur und die Sonne, gehe hinaus, suche das Glück in dir selbst und in Gott. Denke an das Schöne, das sich in dir und um dich immer wieder vollzieht, und sei glücklich!
Nach meiner Ansicht muss Mutters Rat falsch sein, denn was willst du tun, wenn du selbst ins Unglück kommst? Dann bist du verloren. Ich hingegen finde, dass selbst da immer noch etwas Schönes bleibt: Die Natur, die Sonne, Freiheit und etwas in dir selbst. Daran musst du dich halten, dann findest du dich selbst wieder und findest Gott, dann behältst du Dein Gleichgewicht. Und wer selbst glücklich ist, wird auch andere glücklich machen. Wer Mut und Vertrauen hat, wird im Unglück nicht untergehen!

15. Juli 1944

Es ist ein Wunder, dass ich all meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie erscheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte daran fest, trotz allem, weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube. Es ist mir nun einmal nicht möglich, alles auf der Basis von Tod, Elend und Verwirrung aufzubauen. Ich sehe, wie die Welt langsam mehr und mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre immer stärker den anrollenden Donner, der uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen von Menschen mit, und doch, wenn ich nach dem Himmel sehe, denke ich, dass alles sich wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte ein Ende haben muss und wieder Friede und Ruhe die Weltordnung beherrschen werden.

Am 4. August fiel die "Grüne Polizei" ins Hinterhaus ein und brachte alle Versteckten in Konzentrationslager. Zwischen alten Büchern und Zeitungen, die achtlos liegen geblieben waren, fanden Freunde Annes Tagebuch. Anne starb im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen, zwei Monate vor der Befreiung Hollands.


Quellennachweis:
Gollwitzer, Helmut (Hrsg.), "Du hast mich heimgesucht bei Nacht", Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1985



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Last updated 06.12.07