Predigten 2001



Das "Heilige" in unserer westlichen Welt

Christentum und Islam nach den Terroranschlägen vom 11. September
 

Predigt von Dekan Lukasz am Patroziniumsfest, 18. November 2001

 

Da unser Kirchenpatron St. Albertus Magnus zu den größten Denkern seiner Zeit und der Menschheitsgeschichte gehört, möchte ich heute sein Gedächtnis mit einigen aktuellen Gedanken philosophischer, theologischer und politischer Natur ehren.

Der Kampf der Kulturen?

Nach den Terroranschlägen vom 11. September stellten sich die westlichen Länder nicht nur die Frage: Haben wir etwas falsch gemacht, dass es zu solchen Gräueltaten kommen konnte, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen unserer westlichen, christlich geprägten Zivilisation und dem Islam.

Das häufig zitierte Buch von Samuel P. Huntington "The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order", deutscher Titel "Der Kampf der Kulturen", das schon einige Jahre vorher von sich reden machte, warnt vor einem sich langsam anbahnenden Konflikt zwischen unserer westlichen Zivilisation und den asiatischen Kulturkreisen, unter denen der Islam und China am stärksten sind. Die westliche Zivilisation und diese asiatischen Kulturen entfremden sich immer mehr, und falls diese letzten demnächst nicht mehr Achtung seitens des Westens bekämen, sei es unvermeidlich, dass es eines Tages zu einem Zusammenprall der beiden Welten kommt. Sind der 11. September und der Afghanistankrieg Auftakt zu einem Kampf zwischen den Kulturen des Westens und des Islam?

Wir wissen inzwischen, dass es sich hier nicht um einen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen, noch weniger zwischen dem Islam und dem Christentum handelt. Die Anschläge in den USA gehen auf das Konto einer Terrorgruppe innerhalb des Islam. Die meisten Muslime und muslimischen Länder distanzieren sich von den Terroristen. Sie handelten nicht im Namen der muslimischen Welt, ihre Methoden seien mit dem Koranglauben nicht vereinbar.

Auch wenn die Ereignisse der letzten Wochen kein Kampf zwischen zwei Kulturen sind, sie involvieren den Islam und den Westen, sie berühren die Welt des Islam und die Welt des Christentums.

Christentum und Islam – die zwei größten Weltreligionen

Das Christentum und der Islam sind die zwei größten Religionen der Welt. Auf der ganzen Erde leben rund 1,9 Milliarden Christen. Sie machen etwa 31% der Weltbevölkerung aus. Die zweitstärkste Religion an Mitgliederzahl ist der Islam mit ca. 1,2 Milliarden Anhängern, das sind 19% der Weltbevölkerung. Anzumerken ist allerdings, dass die Zahl der Christen im Weltmaßstab prozentual abnimmt, der Islam aber zunimmt. Es ist aber davon auszugehen, dass das Christentum und der Islam auch im nächsten Jahrhundert die größten Religionen bleiben werden. Ein friedliches Miteinander der Christen und Muslime, die insgesamt die Hälfte der Erdbewohner ausmachen, ist eine wichtige Voraussetzung für den Frieden in der Welt.

Islamischer Fundamentalismus und westlicher Pluralismus

Unterschiede zwischen den Beiden sind nicht zu übersehen. Die beiden Religionen, die den gemeinsamen jüdischen Wurzeln entstammen, haben sich unterschiedlich entwickelt. Während das Christentum, angebunden an das europäische Gedankengut, gelernt hat, die Religions- und Gewissensfreiheit zu akzeptieren und zu respektieren, verharren viele Muslime in fundamentalistischen Positionen und sprechen anderen Religionen ihren Wert ab. Den westlichen Bürger beunruhigen nicht nur die Fanatiker, die im Namen der Religion zu zerstörerischen Selbstmordtaten bereit sind, sondern auch das häufig militante Streben des Islam, das politische und öffentliche Leben eines Staates ausschließlich nach den Regeln des fundamentalistisch gelesenen Korans zu gestalten. Gerade dieser sog. Islamismus samt dem numerischen Wachstum des Islam macht vielen Angst und wird als eine Bedrohung der westlichen Welt empfunden.

Anders als im Westen, stellt man in der muslimischen Welt eine starke Identifizierung der Menschen mit ihrer Religion fest. Das starke Gefühl der Zugehörigkeit zum Islam, von der Geburt an, verbindet alle Muslime der Welt miteinander und verschafft dem ganzen Religions- und Kulturkreis eine starke gemeinsame Identitätsbasis.

Eine solche gemeinsame Basis fehlt der heutigen westlichen Welt. Das Christentum, das diese Funktion Jahrhunderte lang erfüllte, hat an Bedeutung und Einfluss verloren und trägt nicht mehr die westliche Welt so wie der Islam die muslimische. Die Errungenschaften unserer westlichen Zivilisation wie Pluralismus und Demokratie, die wir alle zu schätzen wissen, haben dazu geführt, dass eine einfache Identifizierung mit einer einzigen Weltanschauung und Kultur wie in den muslimischen Ländern nicht mehr möglich ist. Als Nebenwirkung hat der Pluralismus leider auch zur großen Beliebigkeit und zum Werteverlust geführt. Nichts wird mehr als absolut und allgemein geltend geglaubt. Diese sog. postmoderne Beliebigkeit verursacht eine große Orientierungslosigkeit.

Suche nach dem normativen Grundkonsens

Immer lauter werden deshalb die Stimmen, nicht nur der Kirchen und Philosophen, sondern auch der Politiker, die nach einer gemeinsamen tragenden Werteplattform, dem sog. normativen Grundkonsens verlangen. Ohne dass wir uns auf einige Grundwerte und Normen einigen, kann unsere westliche Zivilisation nicht überleben, sie kann sich der Auseinandersetzung mit dem Islam nicht stellen.

Wie brennend diese Frage ist, konnte ich vor kurzem hier in Ottobrunn sehen, als Otto Schily und der Staatsminister für Kultur Nida-Rümelin im Wolf-Ferrari-Haus ein Gespräch über Gesellschaft und Kultur führten. Der Bundesinnenminister hat zur Zeit viele brennende Themen der inneren Sicherheit auf dem Schreibtisch: Noch an dem Abend flog er zu Gesprächen in die USA. Bei der Diskussion sprach er aber nicht von den Sicherheitspaketen, die gerade geschnürt werden, sondern er wagte sich auf ein philosophisches Terrain der Werte und Normen. Seiner Meinung nach bedarf die Grundnorm, mit der die deutsche Verfassung beginnt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" einer Vertiefung. Damit man weiß, was die Würde des Menschen sei, müsse definiert werden, was der Mensch überhaupt ist: was den Menschen als Person ausmacht, woher er kommt, wohin er geht. Die Antwort auf diese Fragen sei dringend notwendig, um einen größeren Konsens über den Wert der "Würde des Menschen" in der Gesellschaft zu erreichen.

Fortschrittsglaube gehört der Vergangenheit an

Bei diesen seinen Erwägungen habe ich mir gedacht: Wer ist heute im Stande, uns diese Fragen zu beantworten: was der Mensch ist, woher er kommt, wohin er geht? Die Hoffnung, die lange genährt wurde, dass die moderne Wissenschaft die Antworten liefert, hat sich als nichtig erwiesen. Die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften stießen hier an ihre Grenzen. Die Medizin kann zwar die genetische Ausstattung des Menschen bis ins Letzte entschlüsseln, kann aber nicht finden, was das Menschsein ausmacht.

Wir leben in einer Zeit, in der der Mythos einer ausschließlich wissenschaftlichen Erklärung der Welt zu Ende gegangen ist. Eine hierzulande und in der westlichen Welt verbreitete Meinung, die fortschreitende Wissenschaft und eine moderne Lebenseinstellung würden Antworten auf alle Fragen der Menschen liefern und der Religion das Ende bereiten, hat sich als Irrtum erwiesen. Der Fortschrittsglaube, auf dem der Säkularismus basierte, ist weg gebrochen. Wir treten in eine Phase der "Aufklärung über die Aufklärung" ein. Die Aufklärung, die seit über zweihundert Jahren das europäische Gedankengut bestimmt hat und die Religion beseitigen sollte, muss sich zur Zeit ihren eigenen Fehlern widmen: Sie muss sich über sich selbst aufklären, weil sie von einigen falschen Prämissen ausgegangen ist. Der Fortschrittsglaube kann nicht die Sinnfragen des Menschen beantworten.

Der hierzulande sehr diffusen Neu-Religiosität sollte man auch keine große Zukunft prophezeien. Astrologie, Esoterik und Psychokulte verdecken die Sinnleere einer Gesellschaft, die sich nicht mehr ihrer Herkunft bewusst und ihrer tragenden Grundpfeiler, nämlich des Christentums gewiss ist. (Joachim Wanke, Katholisches Christentum).

Die Kategorie des "Heiligen"

Der Philosoph Hans Jonas bringt in seinem Buch "Das Prinzip Verantwortung" die heutige Orientierungslosigkeit auf den Punkt: "Nun zittern wir in der Nacktheit eines Nihilismus, in der größte Macht sich mit größter Leere paart, größtes Können mit dem geringsten Wissen: wozu." . Die Frage "wozu", "wozu das alles", "wozu die tollen Errungenschaften der Wissenschaft und Technik"?

Der Philosoph sucht Antwort nicht in einer Religion. Er möchte eine säkulare, der Welt immanente Antwort finden. Trotz dieser Prämisse scheint er aber doch das positivistische Weltbild zu verlassen, wenn er von "dem Heiligen", als einer Grundlage für die Ethik der Zukunft spricht: "Die Frage ist, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, überhaupt eine Ethik haben können, welche die extremen Kräfte, die wir heute besitzen, zügeln kann."

Ich verstehe diese Aussage so: Wir brauchen heute einen Wert, aus dem wir eine Ethik ableiten können. Diese Ethik ist notwendig, damit wir selbst nicht zu den Opfern des technischen und bio-medizinischen Fortschritts werden. Solcher Verhaltenskodex kann nur entstehen, wenn es in unserer Welt etwas gibt, was wir für "Heilig", für unberührbar, für unantastbar, für über jede Diskussion erhaben halten.

Was sollte zu diesem Grundwert des "Heiligen" in unserer westlichen Welt werden? Für uns Christen ist das "Heilige" in der Bibel definiert: Heilig ist Gott selbst und der Mensch, der nach seinem Abbild geschaffen ist. Daraus leitet sich ab unsere christliche Ethik, die in der Bibel, etwa im Dekalog und in den Evangelien, eine klare Formulierung gefunden hat. So einfach haben es wir Christen!

Was könnte und was sollte das "Heilige" sein für die Menschen unter uns, die keine bekennenden Christen sind, die aber in unserem westlichen Kulturkreis leben und sich damit geistig identifizieren?

Das christliche Menschenbild

Einige Anstöße zu diesem Thema fand ich kürzlich in einem Zeitungsaufsatz von Bischof Wolfgang Huber, dem evangelischen Bischof von Berlin-Brandenburg (SZ, 30. Okt. 2001).

Angesichts der Terroranschläge und ihrer Folgen müssen wir – so das Anliegen des Bischofs - die Aktualität des christlichen Menschenbildes für die gesamte westliche Welt betonen. Das christliche Menschenbild besagt, dass der Mensch eine Würde hat, weil er von Gott zu seinem Ebenbild berufen ist. Der Mensch ist die Krönung der Schöpfung und in ihr der höchste Wert. Für den Wertekatalog bedeutet das: Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Taten oder Untaten. Jeder Mensch, auch ein Feind, besitzt die Würde des Menschseins, die ihm keiner aberkennen darf.

Eine Kultur des Lebens

Was bedeutet dies für die gegenwärtige Terrorbekämpfung? Auch wenn skrupellose Terroristen die Würde von Tausenden missachten und ihr Leben auslöschen, sollte ihnen  unsere westliche Welt nicht auf gleiche Weise vergelten. Zu den Grundregeln unserer westlichen Demokratie gehört, dass sie eine Lebensform ist, in der man auch noch für seinen Feind verantwortlich ist. In dieser Form hat die westliche Demokratie Jesu kühnes Gebot von der Feindesliebe in sich aufgenommen, wie man es z.B. an der Abschaffung der Todesstrafe sieht.

Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist für den Westen also eine Herausforderung, nicht nur in militärischer Hinsicht. Dem Bösen muss sicher Einhalt geboten werden, aber so, dass wir unsere eigene westlich christliche Identität bewahren, d.h. das Leben jedes Menschen achten und schützen.

Deshalb ist der 11. September und der Krieg in Afghanistan nicht der Beginn des Kampfes zwischen der muslimischen und der westlichen Kultur, sondern er markiert den Kampf – wie Bundeskanzler Schröder es treffend formulierte – "um Kultur", d.h. um die Erhaltung unserer westlichen Kultur. Diese Kultur – so möchte ich sie definieren – ist eine Kultur, in der dem Menschen und seinem Leben, in allen Stufen der Entwicklung, der höchste Wert beigemessen wird.

Aufgabe von uns Christen in der gegenwärtigen angespannten Situation ist es, diese Grundlagen unserer Zivilisation vor unseren Zeitgenossen geltend zu machen. Wir sollten heute bewusst eine Kultur des Lebens, eine Kultur der Anerkennung jedes Menschen, auch des Fremden und des Feindes stärken. Wir dürfen uns von dem geschehenen Bösen nicht verblenden lassen und das Leben anderer für geringerwertig halten. Wenn andere das tun, dann zeigen wir durch den Verzicht auf Rache nicht unsere Schwäche, sondern unsere Stärke. Wenn wir uns, wie die anderen, dem Geist der Gewalt unterwerfen würden, dann wäre das die Kapitulation des Westens. Das "Heilige" in jedem Menschen sollte von uns Christen mit allen Mitteln verkündet und verteidigt werden, um unserer westlichen, sich im Umbruch befindenden Zivilisation, eine Basis zu garantieren, auf der sie sich weiter zu einer zivilisierten, menschenfreundlichen Welt entwickeln kann.

 

 


Tipps für Interessierte:

Zum notwendigen Gespräch mit dem Islam schrieb Kardinal Lehmann in der Mainzer Bistumszeitung "Glaube und Leben", Oktober 2001, einen Beitrag unter folgendem Titel:

Religiöser Wahn ?

In der Zeitschrift chrismon hat Hans Küng unter der Überschrift

So wird Frieden möglich

zwölf Thesen zu seiner Friedensethik aufgestellt.

Predigt von Kardinal Lehmann im Eröffnungsgottesdienst zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 25. September 2001 in Fulda.

 
 
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Last updated 06.12.07