Da
unser Kirchenpatron St. Albertus Magnus zu den größten Denkern seiner Zeit
und der Menschheitsgeschichte gehört, möchte ich heute sein Gedächtnis mit
einigen aktuellen Gedanken philosophischer, theologischer und politischer
Natur ehren.Der Kampf der Kulturen?
Nach den Terroranschlägen vom 11. September stellten sich die
westlichen Länder nicht nur die Frage: Haben wir etwas falsch gemacht,
dass es zu solchen Gräueltaten kommen konnte, sondern auch die Frage nach
dem Verhältnis zwischen unserer westlichen, christlich geprägten
Zivilisation und dem Islam.
Das häufig zitierte Buch von Samuel P. Huntington "The Clash of
Civilizations and the Remaking of World Order", deutscher Titel
"Der Kampf der Kulturen", das schon einige Jahre vorher von sich reden
machte, warnt vor einem sich langsam anbahnenden Konflikt zwischen unserer
westlichen Zivilisation und den asiatischen Kulturkreisen, unter denen der
Islam und China am stärksten sind. Die westliche Zivilisation und diese
asiatischen Kulturen entfremden sich immer mehr, und falls diese letzten
demnächst nicht mehr Achtung seitens des Westens bekämen, sei es
unvermeidlich, dass es eines Tages zu einem Zusammenprall der beiden
Welten kommt. Sind der 11. September und der Afghanistankrieg Auftakt zu
einem Kampf zwischen den Kulturen des Westens und des Islam?
Wir wissen inzwischen, dass es sich hier nicht um einen Kampf zwischen
dem Islam und dem Westen, noch weniger zwischen dem Islam und dem
Christentum handelt. Die Anschläge in den USA gehen auf das Konto einer
Terrorgruppe innerhalb des Islam. Die meisten Muslime und muslimischen
Länder distanzieren sich von den Terroristen. Sie handelten nicht im Namen
der muslimischen Welt, ihre Methoden seien mit dem Koranglauben nicht
vereinbar.
Auch wenn die Ereignisse der letzten Wochen kein Kampf zwischen zwei
Kulturen sind, sie involvieren den Islam und den Westen, sie berühren die
Welt des Islam und die Welt des Christentums.
Christentum und Islam – die zwei größten
Weltreligionen
Das Christentum und der Islam sind die zwei größten Religionen der
Welt. Auf der ganzen Erde leben rund 1,9 Milliarden Christen. Sie machen
etwa 31% der Weltbevölkerung aus. Die zweitstärkste Religion an Mitgliederzahl
ist der Islam mit ca. 1,2 Milliarden Anhängern, das sind 19% der
Weltbevölkerung. Anzumerken ist allerdings, dass die Zahl der Christen im
Weltmaßstab prozentual abnimmt, der Islam aber zunimmt. Es ist aber davon
auszugehen, dass das Christentum und der Islam auch im nächsten
Jahrhundert die größten Religionen bleiben werden. Ein friedliches
Miteinander der Christen und Muslime, die insgesamt die Hälfte der
Erdbewohner ausmachen, ist eine wichtige Voraussetzung für den Frieden in
der Welt.
Islamischer Fundamentalismus und westlicher
Pluralismus
Unterschiede zwischen den Beiden sind nicht zu übersehen. Die beiden
Religionen, die den gemeinsamen jüdischen Wurzeln entstammen, haben sich
unterschiedlich entwickelt. Während das Christentum, angebunden an das
europäische Gedankengut, gelernt hat, die Religions- und Gewissensfreiheit
zu akzeptieren und zu respektieren, verharren viele Muslime in
fundamentalistischen Positionen und sprechen anderen Religionen ihren Wert
ab. Den westlichen Bürger beunruhigen nicht nur die Fanatiker, die im
Namen der Religion zu zerstörerischen Selbstmordtaten bereit sind, sondern
auch das häufig militante Streben des Islam, das politische und
öffentliche Leben eines Staates ausschließlich nach den Regeln des
fundamentalistisch gelesenen Korans zu gestalten. Gerade dieser sog.
Islamismus samt dem numerischen Wachstum des Islam macht vielen Angst und
wird als eine Bedrohung der westlichen Welt empfunden.
Anders als im Westen, stellt man in der muslimischen Welt eine starke
Identifizierung der Menschen mit ihrer Religion fest. Das starke Gefühl
der Zugehörigkeit zum Islam, von der Geburt an, verbindet alle Muslime der
Welt miteinander und verschafft dem ganzen Religions- und Kulturkreis eine
starke gemeinsame Identitätsbasis.
Eine solche gemeinsame Basis fehlt der heutigen westlichen Welt. Das
Christentum, das diese Funktion Jahrhunderte lang erfüllte, hat an
Bedeutung und Einfluss verloren und trägt nicht mehr die westliche Welt so
wie der Islam die muslimische. Die Errungenschaften unserer westlichen
Zivilisation wie Pluralismus und Demokratie, die wir alle zu schätzen
wissen, haben dazu geführt, dass eine einfache Identifizierung mit einer
einzigen Weltanschauung und Kultur wie in den muslimischen Ländern nicht
mehr möglich ist. Als Nebenwirkung hat der Pluralismus leider auch zur
großen Beliebigkeit und zum Werteverlust geführt. Nichts wird mehr als
absolut und allgemein geltend geglaubt. Diese sog. postmoderne
Beliebigkeit verursacht eine große Orientierungslosigkeit.
Suche nach dem normativen Grundkonsens
Immer lauter werden deshalb die Stimmen, nicht nur der Kirchen und
Philosophen, sondern auch der Politiker, die nach einer gemeinsamen
tragenden Werteplattform, dem sog. normativen Grundkonsens verlangen. Ohne
dass wir uns auf einige Grundwerte und Normen einigen, kann unsere
westliche Zivilisation nicht überleben, sie kann sich der
Auseinandersetzung mit dem Islam nicht stellen.
Wie brennend diese Frage ist, konnte ich vor kurzem hier in Ottobrunn
sehen, als Otto Schily und der Staatsminister für Kultur Nida-Rümelin im
Wolf-Ferrari-Haus ein Gespräch über Gesellschaft und Kultur führten. Der
Bundesinnenminister hat zur Zeit viele brennende Themen der inneren
Sicherheit auf dem Schreibtisch: Noch an dem Abend flog er zu Gesprächen
in die USA. Bei der Diskussion sprach er aber nicht von den
Sicherheitspaketen, die gerade geschnürt werden, sondern er wagte sich auf
ein philosophisches Terrain der Werte und Normen. Seiner Meinung nach
bedarf die Grundnorm, mit der die deutsche Verfassung beginnt: "Die
Würde des Menschen ist unantastbar" einer Vertiefung. Damit man weiß,
was die Würde des Menschen sei, müsse definiert werden, was der Mensch
überhaupt ist: was den Menschen als Person ausmacht, woher er kommt, wohin
er geht. Die Antwort auf diese Fragen sei dringend notwendig, um einen
größeren Konsens über den Wert der "Würde des Menschen" in der
Gesellschaft zu erreichen.
Fortschrittsglaube gehört der Vergangenheit an
Bei diesen seinen Erwägungen habe ich mir gedacht: Wer ist heute im
Stande, uns diese Fragen zu beantworten: was der Mensch ist, woher er
kommt, wohin er geht? Die Hoffnung, die lange genährt wurde, dass die
moderne Wissenschaft die Antworten liefert, hat sich als nichtig erwiesen.
Die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften stießen hier an
ihre Grenzen. Die Medizin kann zwar die genetische Ausstattung des
Menschen bis ins Letzte entschlüsseln, kann aber nicht finden, was das
Menschsein ausmacht.
Wir leben in einer Zeit, in der der Mythos einer ausschließlich
wissenschaftlichen Erklärung der Welt zu Ende gegangen ist. Eine
hierzulande und in der westlichen Welt verbreitete Meinung, die
fortschreitende Wissenschaft und eine moderne Lebenseinstellung würden
Antworten auf alle Fragen der Menschen liefern und der Religion das Ende
bereiten, hat sich als Irrtum erwiesen. Der Fortschrittsglaube, auf dem
der Säkularismus basierte, ist weg gebrochen. Wir treten in eine Phase der
"Aufklärung über die Aufklärung" ein. Die Aufklärung, die seit über
zweihundert Jahren das europäische Gedankengut bestimmt hat und die
Religion beseitigen sollte, muss sich zur Zeit ihren eigenen Fehlern
widmen: Sie muss sich über sich selbst aufklären, weil sie von einigen
falschen Prämissen ausgegangen ist. Der Fortschrittsglaube kann nicht die
Sinnfragen des Menschen beantworten.
Der hierzulande sehr diffusen Neu-Religiosität sollte man auch keine
große Zukunft prophezeien. Astrologie, Esoterik und Psychokulte verdecken
die Sinnleere einer Gesellschaft, die sich nicht mehr ihrer Herkunft
bewusst und ihrer tragenden Grundpfeiler, nämlich des Christentums gewiss
ist. (Joachim Wanke, Katholisches Christentum).
Die Kategorie des "Heiligen"
Der Philosoph Hans Jonas bringt in seinem Buch "Das Prinzip
Verantwortung" die heutige Orientierungslosigkeit auf den Punkt:
"Nun zittern wir in der Nacktheit eines Nihilismus, in der größte Macht
sich mit größter Leere paart, größtes Können mit dem geringsten Wissen:
wozu." . Die Frage "wozu", "wozu das alles", "wozu die tollen
Errungenschaften der Wissenschaft und Technik"?
Der Philosoph sucht Antwort nicht in einer Religion. Er möchte eine
säkulare, der Welt immanente Antwort finden. Trotz dieser Prämisse scheint
er aber doch das positivistische Weltbild zu verlassen, wenn er von "dem
Heiligen", als einer Grundlage für die Ethik der Zukunft spricht: "Die
Frage ist, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen,
die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört
wurde, überhaupt eine Ethik haben können, welche die extremen Kräfte, die
wir heute besitzen, zügeln kann."
Ich verstehe diese Aussage so: Wir brauchen heute einen Wert, aus dem
wir eine Ethik ableiten können. Diese Ethik ist notwendig, damit wir
selbst nicht zu den Opfern des technischen und bio-medizinischen
Fortschritts werden. Solcher Verhaltenskodex kann nur entstehen, wenn es
in unserer Welt etwas gibt, was wir für "Heilig", für unberührbar, für
unantastbar, für über jede Diskussion erhaben halten.
Was sollte zu diesem Grundwert des "Heiligen" in unserer westlichen
Welt werden? Für uns Christen ist das "Heilige" in der Bibel definiert: Heilig ist Gott selbst und der Mensch, der nach seinem Abbild
geschaffen ist. Daraus leitet sich ab unsere christliche Ethik, die in der
Bibel, etwa im Dekalog und in den Evangelien, eine klare Formulierung
gefunden hat. So einfach haben es wir Christen!
Was könnte und was sollte das "Heilige" sein für die Menschen unter
uns, die keine bekennenden Christen sind, die aber in unserem westlichen
Kulturkreis leben und sich damit geistig identifizieren?
Das christliche Menschenbild
Einige Anstöße zu diesem Thema fand ich kürzlich in einem
Zeitungsaufsatz von Bischof Wolfgang Huber, dem evangelischen Bischof von
Berlin-Brandenburg (SZ, 30. Okt. 2001).
Angesichts der Terroranschläge und ihrer Folgen müssen wir – so das
Anliegen des Bischofs - die Aktualität des christlichen Menschenbildes für
die gesamte westliche Welt betonen. Das christliche Menschenbild besagt,
dass der Mensch eine Würde hat, weil er von Gott zu seinem Ebenbild
berufen ist. Der Mensch ist die Krönung der Schöpfung und in ihr der
höchste Wert. Für den Wertekatalog bedeutet das: Der Mensch ist mehr als
die Summe seiner Taten oder Untaten. Jeder Mensch, auch ein Feind, besitzt
die Würde des Menschseins, die ihm keiner aberkennen darf.
Eine Kultur des Lebens
Was bedeutet dies für die gegenwärtige Terrorbekämpfung? Auch wenn
skrupellose Terroristen die Würde von Tausenden missachten und ihr Leben
auslöschen, sollte ihnen unsere westliche Welt nicht auf gleiche Weise
vergelten. Zu den Grundregeln unserer westlichen Demokratie gehört, dass
sie eine Lebensform ist, in der man auch noch für seinen Feind
verantwortlich ist. In dieser Form hat die westliche Demokratie Jesu
kühnes Gebot von der Feindesliebe in sich aufgenommen, wie man es z.B. an
der Abschaffung der Todesstrafe sieht.
Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist für den Westen also
eine Herausforderung, nicht nur in militärischer Hinsicht. Dem Bösen muss
sicher Einhalt geboten werden, aber so, dass wir unsere eigene westlich
christliche Identität bewahren, d.h. das Leben jedes Menschen achten und
schützen.
Deshalb ist der 11. September und der Krieg in Afghanistan nicht der
Beginn des Kampfes zwischen der muslimischen und der westlichen Kultur,
sondern er markiert den Kampf – wie Bundeskanzler Schröder es treffend
formulierte – "um Kultur", d.h. um die Erhaltung unserer westlichen
Kultur. Diese Kultur – so möchte ich sie definieren – ist eine Kultur, in
der dem Menschen und seinem Leben, in allen Stufen der Entwicklung, der
höchste Wert beigemessen wird.
Aufgabe von uns Christen in der gegenwärtigen angespannten Situation
ist es, diese Grundlagen unserer Zivilisation vor unseren Zeitgenossen
geltend zu machen. Wir sollten heute bewusst eine Kultur des Lebens, eine
Kultur der Anerkennung jedes Menschen, auch des Fremden und des Feindes
stärken. Wir dürfen uns von dem geschehenen Bösen nicht verblenden lassen
und das Leben anderer für geringerwertig halten. Wenn andere das tun, dann
zeigen wir durch den Verzicht auf Rache nicht unsere Schwäche, sondern
unsere Stärke. Wenn wir uns, wie die anderen, dem Geist der Gewalt
unterwerfen würden, dann wäre das die Kapitulation des Westens. Das
"Heilige" in jedem Menschen sollte von uns Christen mit allen Mitteln
verkündet und verteidigt werden, um unserer westlichen, sich im Umbruch
befindenden Zivilisation, eine Basis zu garantieren, auf der sie sich
weiter zu einer zivilisierten, menschenfreundlichen Welt entwickeln kann.